Die Geschichte enthält potenziell triggernde Inhalte:
Tod/Verlust
Mobbing
Suizidale Gedanken
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in erinnerung an aleksander pakura
Du bist stehengeblieben und der Schock biegt mich wieder. Meine Rippen quetschen aneinander, als wären sie aus weichem Material. Sie ziehen in meinem Körper, meine Rippen ziehen und plötzlich bleibe ich auch stehen und greife in meine Leere hinein. Dein Bild erblinzelt sich langsam, schräg, wird immer dichter, und meine Finger handeln wie von selbst. Wie kann ich das immer wieder vergessen? Das ist mein Dank, dass ich vergesse. Ich verdränge dich hervorragend, nur im November tauchst du dann plötzlich wieder hervor, wirst in meine Gedanken geschubst, als wäre da was zwischen uns gewesen, was Intimes, dabei haben wir kaum ein Wort miteinander getauscht, von mir hast du nur einen Rücken bekommen. Doch du hast mir eine so heftige Ladung Elektrizität hinterlassen, dass meine Finger immer noch zittern, dass meine Schrift über dem Papier bebt und meine Worte fast stehen bleiben, denn der Tod, der ist doch immer intim. Und trotzdem bin ich ganz blank und stumm, welche Worte kann ich dir schon nachgraben?
Da hatte ich nur kurz in meinem Alltag pausiert, hatte mein Smartphone hervorgezogen, meine E-Mails geöffnet. Ich war da gerade am Sterben, so mittendrin, ertrank mich in viel Tee und Thomas Bernhards Worten. Weil meine Gefühle so laut waren, drückte ich sie hinab, betäubte sie mit allem, doch sie zerrten an mir, saugten mich aus. Es war nur ein Schulpraktikum, doch für mich war es ein Schlachthaus und der Betreuungslehrer ein Metzger, der alles von mir verschlachtete, was er bekam. Und indem ich auf mein Smartphone starrte, kaschierte ich meine Gefühle, checkte die E-Mails und plötzlich empfing ich einen Schlag.
Mein Klassenvorstand, ein verzögerter Mensch, aber der im Endziel immer alles fehlerfrei verlangt hat und ganz perfide war, gab keinen Betreff an. Und so ein Mensch, der seine Pflanzen mit Lineal abmisst und selbst bei der Mündlichkeit Dativfehler rügt, vergisst den Betreff nicht. Er begann mit Smalltalk, sprach uns an mit „meine lieben ehemaligen Schüler und Schülerinnen“ und ich dachte daran, wie er mit uns schreien konnte, wie ich einmal ein selbstgeschriebenes Gedicht vorgelesen hatte, dazwischen jemand zu lachen begonnen hatte, und er mich nur ansah, die Klasse schwieg und er tauchte mit ein in dieses Schweigen, ging einfach weiter und dann rief er andere auf, ihre Texte vorzulesen. Wie er dich nicht ernstnahm im Unterricht, wie zornig er werden konnte, mit dir und Linus, denn er stieß sich an euren Köpfen und präsentierte eure Untalente vor uns.
Er zählte jetzt jeden Namen in der E-Mail auf und in meinem Bauch hat da schon etwas gezogen, wieso zählt er uns alle auf, wir wissen ja, wer wir sind, ich weiß doch genau, mit wem ich mir acht Jahre lang das Zimmer teilen musste.
Und dann fiel ich auseinander. Aus mir sickerte und schlüpfte alles heraus, was ich in diesem Semester so gut zu verdrängen versucht hatte, aus mir platzte alles, die billigen Nähte hielten nicht mehr und da stand dann, was ich zu Beginn schon geahnt hatte.
Leider ist der Grund, euch zu schreiben, ein sehr trauriger.
Jemand ist tot. Und dann erfahre ich, dass du es bist, bin im ersten Moment fast erleichtert, meine Nähte ziehen sich wieder zusammen, denn wir kannten uns doch kaum, nur ganz kurz durftest du unsere intrigante Klassengemeinschaft kosten und wir schürften dich mit unserer Ignoranz wund, zeigten dir unseren Eisenpanzer, obwohl du nur vier, fünf Monate hier warst und auch nur versucht hast, deine Matura hinter dich zu bringen.
Und dann treffen mich die Worte mit voller Wucht. Unsere Schule war so klein, als ich in der fünften Klasse war, waren du und ich in derselben Clique ohne miteinander zu sprechen. Du warst immer ein Streifen in meiner Schullaufbahn, du warst immer irgendwie hier, verworren und gewirbelt in dich selbst, doch ich hab dich gesehen, weil du auch ein Außenseiter warst. Weil du näher an der Wand gegangen bist, weil du durch die Schule geschlichen bist, um niemanden zu stören, niemanden mit deinem Dasein aufzuwecken und in Unruhe zu bringen. Und jetzt bist du, 22 Jahre alt, einfach stehengeblieben. Gehirntumor. Du bist stehengeblieben und hast mir eine ganze Ladung Elektrizität hinterlassen und ich konnte nicht fliehen. Ich bin aufgestanden, mein Handy umklammert, bin ich nach drüben gelaufen, in das Wohnzimmer und meine Mama hat mich angesehen mit großen Augen und sie hat mich sofort aufgefangen mit ihren weiten Armen und ich hab ihren sanften Herzschlag gehört und versucht, mich fallen zu lassen, aber dann. Ich musste dich sofort wieder hinausschließen, du musstest raus und ich versuchte, Boden zu finden, deine Ladung umzuleiten, aber da blieben Funken – oh, wie viele Funken blieben da.
Du warst schon vor mir in der Clique und ich weiß genau, warum wir alle dort waren, wir waren eine Sammlung an Extremitäten, die niemand gern ansah, mit denen niemand gern sprach und ich bin da mitten reingelandet zu euch. Wir schlugen unsere Zweifel im Europark tot, lachten so laut miteinander, lachten so gierig den anderen Menschen ins Gesicht, um ihnen zu zeigen, wir besaßen Humor in unseren Zungen, böse Witze konnten auch durch unsere Zahnschlitze kriechen, wir hatten auch Spaß, wir waren verzweifelt, doch wir hatten Spaß. Mit dir habe ich nicht gesprochen. Deine ruhige Art hat mich verschreckt, du hast immer in den Boden genuschelt und geklungen wie ein Mikrofon mit Wackelkontakt. In dir verworrte sich alles, du bogst dich in deiner Haltung, Schultern erhoben, Kopf nach unten und die Haltung deiner Wirbelsäule ließ mich immer stoppen, nur aus der Entfernung konnte ich dich anschauen, ich traute mich nicht hin zu dir. Wenn wir am Gang aneinander vorbeischlichen, durch die Massen, grüßte ich dich nie. Und wir sind Schleicher, wir beobachten die Menschen um uns, weil wir Angst haben, doch obwohl wir so langsam schleichen und alles sehen könnten, achten wir nicht auf das Leben.
Und ich wünsche dir Farben. Ich wusste nicht, wie dein Leben weiterging, nachdem du die Schule abgebrochen hast. Aber ich hoffe, da waren viele Farben, weil ich dann besser damit leben kann, dass du schon so früh gestorben bist, und weil ich mich fürchte, dass ich einmal sterbe, vielleicht bald, und dann auf kein buntes Leben schaue. Das ist wie dieser Trost, dass Gott eine andere Aufgabe für uns hat, deswegen musstest du so früh weg. Deswegen hat er dich so früh genommen.
Am Tag der Verabschiedung war ich die erste, die da war. Ich hatte davor eine Unterrichtsstunde zu halten, mich in Schwarz verborgen, geschlachtet wurde ich vom Lehrer trotzdem, doch ich sagte ihm aus Trotz nicht, warum ich so leise war, dass ich die nächsten Stunden seinen so kreativen, monologisierenden Frontalunterricht nicht beobachten konnte, weil ich auf deine Verabschiedung gehen wollte. Ich sagte, ich habe einen Termin, also ging ich einfach zu meinem Termin.
Und begegnete zuerst meinem Klassenvorstand, er fragte nach meinem Befinden, und beinahe wäre ich in Tränen auseinandergeflossen, direkt in den Gully neben der Bestattung Jung, und der verzögerte Mensch nickte, zuckte mit den Mundwinkel und sah mir das scharfe Atmen an, wie mich die Luft schmerzte, ich sah das Blitzen in seinen Augen und er formulierte ein paar lapidare Worte, die so wichtig gewesen sein mussten, dass ich sie vergessen habe. Als die ersten Klassenkameradinnen auftauchten, wusste ich wieder, warum ich die Uni lieber mag. Sie steckten die Köpfe zusammen, schoben sich zu ihrem Eisenpanzer aneinander und stachen mit ihrer Ignoranz nach außen, flüsterten und tuschelten, sie nuschelten nicht in den Boden, sie flüsterten laut genug.
„Hatte er den Gehirntumor schon bei uns in der Klasse und war er deswegen so komisch? Hat er so viel genuschelt, war er sprachlich so schwach, weil er krank war?“ Und die wirkliche Frage war doch: „War er wirklich einfach nur krank oder war es der Tumor?“
Auf ihrer Stirn sah man die tiefen Falten. Du warst ein Psycho, ein ganz Seltsamer, Fremder und das haben sie dir von Anfang an gezeigt, da gibt es immer diese in einer Klasse, die dir sofort zeigen, woran du bist, nämlich dass du nichts bist. Und dann gibt es uns, die das Nichtssein verstärken, weil wir schweigen und nur Rücken hergeben, wo wir uns eigentlich umdrehen müssten.
Es kamen viele aus der Schule zur Verabschiedung, aus deiner wirklichen Klasse, wo du die acht Jahre verbracht hast, bevor du zu uns gekommen bist. Alle Plätze waren belegt, ich war eine von denen, die stehen musste. Das war mir recht, so knapp an der Tür, jederzeit konnte ich verschwinden, doch ich ging nicht, ich blieb und schaute deiner Mutter zu bei allem, was sie tat. Sie weinte. Leise. Ihre Schultern versuchten ihre Ohren zuzuhalten, ihre Augen kreisten umher, ihre blonden Haare waren ganz kurz. Und als wir uns dann alle anstellten, um an den Sarg zu gehen, die Hand aufzulegen, da ließ sie dich nicht los. Plötzlich umschlang deine Mutter das Holz, warf sich darauf, schluchzte und bebte und fetzte in ihrer ganzen Traurigkeit durch den Saal. Ihre Stimme jaulte, überschlug sich, sie atmete nicht, sie schrie. Sie lag lange auf dem Sarg, hielt ihn fest, dann blieb sie ganz nah bei ihm stehen, ihre Schultern zogen sich wieder nach oben, und sie empfing die Hände, bedankte sich, nuschelte uns ins Gesicht, ihre Augen saugten mich ein.
Ich weiß nicht mehr, wie ich zu dem Sarg gekommen bin. Und da ist nichts in meinem Kopf, das ist mein Dank, ich habe das vergessen, was ich für dich dachte, was ich dir auf den Sarg gelegt habe – da ist nichts und jetzt versuche ich, dir Worte nachzugraben, durch den Eisenpanzer stoße ich mit meiner Schaufel, platze dagegen und sie bricht ab, doch ich grabe weiter.
Denn ich starb und du hast mich gerettet. Deine Elektrizität war stark genug, war stärker als mein Bauch, schmerzhafter als der Metzger und so laut, sie zerplatzte mir die Ohren, damit ich von außen keine Stimmen mehr wahrnehmen konnte, sondern da ganz tief drinnen auf mich hören musste, was ich eigentlich mit Tee ertränken wollte. Da war nichts, einfach nichts. Und plötzlich war mir alles ganz klar, plötzlich brach meine gesamte Brust auseinander, alle Nähte rissen und ich wusste. Ich wollte auch sterben, bevor ich noch einmal einen Schritt in das Schlachthaus setzen musste, aber was ist das für ein Gedanke, dass du gestorben bist und ich sterben wollte, wo ich noch alle Möglichkeiten habe und du keine einzige, du bist jetzt tot, deine Seele ist weg, dein Körper ausgetickt, du wirst nicht mehr aufstehen und dich nichts mehr fragen müssen.
Ich möchte schreien, du hast mich nicht losgelassen, dabei habe ich mich an dich geklammert. Dein Tod diente, das Sterben wurde echt. Er diente mir dabei zu wissen, der Tod ist ein Strich. Dann saß ich da in meinem Ferialjob, wo sich plötzlich alles aufbot, dort bleiben zu können, dort hingehen zu können, nach meinem Studium, mich zwischen Büchern zu vergraben und mit Menschen zu kommunizieren und ich weinte, weil ich wusste, ich ließ da gerade das Lehramt los, entschied mich für Bücher und Lesen und Schreiben und das brannte mich hell und ich dachte an dich, an deinen Toddienst, was du mir gezeigt hast, ohne, dass wir je ein Wort gewechselt haben, nicht einmal an deinem Sarg.
Nach der Verabschiedung sind wir noch in die Schule gegangen. Da ist ganz viel Weiß, die Säulen, die Decken, nur die Spinde sind hellgrau und ich sehe mich in dem Obergeschoss, bin so blass und verbogen. Der Geruch hat mich erstickt, aber ich habe es nicht gemerkt, nicht sofort, nur das Klemmen in der Brust und die Erinnerung an meine Wut. Warum bist du an der Wand geschlichen? Meine Mama musste mich früher immer zur Schule fahren, weil ich die Leute im Bus nicht ertrug, denn da war alles so eng und ich bekam kaum Luft und war ich dann in der Schule, war es zwar weit, aber Luft bekam ich trotzdem keine. Und ich wollte noch ein freundliches Gesicht sehen, jemanden, der an mich glaubte, bevor ich durch die Hintertür schlich und ich schlich über die Fliesen, ging ganz nah an der Wand, um niemanden plötzlich mit meiner Wut zu zerschlagen und den Eisenpanzer zu zersprengen und ständig wollte ich schreien, in meiner Brust schrie ich nur, doch mein Kopf war tief unter Wasser. Warum war es so schwierig, uns zu lieben?
In meiner Vorstellung will ich auf dich zugehen, dir die Hand reichen und dich einfach ins Gesicht fragen, war da auch nichts in dir? Wie hast du die Schule überlebt? Und die Frage ist doch, hast du die Schule überlebt? Warst du neun Jahre dort, um drei Jahre später zu sterben? Ich weiß nicht, wo dein Grab steht und deinen Parten habe ich verloren. Dein Tod ist ganz tief in mir begraben, er hat mir mein Leben gezeigt und das ist der Schock, der mich biegt. Dass mich die Schule zerstört hat und dich vielleicht auch, dass du tot bist und ich nicht. Weil ich jetzt anfangen kann, weil ich anfangen will, weil ich mich schon immer noch ein wenig fürchte, vor dem schnellen Sterben, dem ruckartigen Strich. Mehr bekomme ich nicht durch meine Hand, das ist mein Dank, dass ich ein vages Bild von dir im Kopf behalte und dich hilflos mit diesen Zeilen auffange. Für die Schule bleibt nur noch mein Rücken, Aleksander, dank dir. Ich kann jetzt weiterschleichen.
Vielen lieben Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, um meine Kurzgeschichte “weiterschleichen” zu lesen. Wenn sie dich angesprochen hat, freue ich mich, wenn du meine Kunst so unterstützt, wie es dir gerade möglich ist:
Danke dir von Herzen, dass du hier bist. Pass auf dich auf und wir lesen uns.
Oh, wow. 🥺 Ich denke, ich muss diese Geschichte noch einmal lesen, weil sie so unglaublich dicht und voll mit Wortbildern ist. Aber erst einmal fühle ich dem Echo nach, das deine Worte in mir hinterlassen. Danke, dass du sie mit uns geteilt hast. 🤍